Enno E. Peter

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Lyrik - Versuch einer Bestimmung

Auch unsere Zeit ist keine besonders gute Zeit für Lyrik. In den Zeitungen finden wir sie nur noch in den Weihnachtsausgaben, im Buchhandel steht sie in der hintersten Ecke und in unseren Regalen müssen wir lang nach den meist schmalen Bänden suchen. Lyrik begegnet uns nur noch in ihren Abziehbildern: In der Werbung versucht sie uns zu überreden, als Text in der POPulären Musik dient sie dazu, die Wiederholung banaler Themen und einfacher Rhythmen bis zum Ausblenden zu rechtfertigen und auf Grußkarten wird uns ein Stück Lebensweisheit präsentiert. Doch bietet gerade die Lyrik als Medium einige Chancen. Sie ist kurz, was unserer Lesefaulheit entgegen kommt. Sie ist verdichtet und spannungsreich, was bei dem Leser einen starken Eindruck hinterlassen kann; dabei weicht die Sprache meist von unserer alltäglichen ab. Das Gedicht kann also unser Leben, wenigstens einen Moment dessen, bereichern oder infragestellen.

In unserer Diskussion über lyrische Texte, wir sprechen dabei immer noch von Gedichten, tauchen wichtige Fragen auf, die das Wesen des Lyrischen in unserer Zeit zu erfahren suchen. Schreiben wir in unserer Umgangsprache oder versuchen wir, eine eigene poetische Sprache zu entwickeln? Darf man heute noch reimen? Dürfen wir auf bekannte Formen zurückgreifen, gibt dieses Sinn? Wie sollte ein authentisches Gedicht aussehen? Letzendlich: Warum schreiben wir? & Wer soll das, warum lesen? Einige dieser Fragen will ich im Folgenden für mich versuchen zu beantworten, andere bleiben den eigenen Überlegungen überlassen.

Sprache

Es gibt z. Zt. keine allgemeingültige und -verständlche poetische Sprache, der es gelingt, unser Sein zu beschreiben. Wir bemerken nur immer wieder, daß die alten Metaphern nicht mehr greifen. Die Bilder entsprechen nicht mehr, Symbole und Zeichen sind verloren oder untergegangen und das zu recht: Wir leben in einer technisierten Welt, in der Natur und Natürlichkeit (des Menschen) zunehmend tabu werden. Deshalb stehen uns die Ausdrucksmittel, die zum Beispiel in der Romantik geschaffen wurden, wie fremdgewordene Freunde gegenüber. Und es ist zu spüren, daß diese alte Freundschaft nicht aus Liebe zur Nostalgie aufrechterhalten werden darf. Die heutige Sprache wird kleiner, sie wird auf Binäroppositionen reduziert, sie ist durchdrungen von technischen Fachtermini und Kulturimporten, die wir als Neologismen empfinden, die aber in Wirklichkeit unser Sprachgefühl nicht erweitern (Cyberspace, Cocooning, Discman, Bungee Jumping, Kompatibilität, etc.).

Zwei Möglichkeiten ergeben sich für eine lyrische Sprache. Wir schreiben, wie wir reden und ermöglichen so einen allgemeinen Zugang zu unseren Texten. Ein elitärer Anspruch, der sich nur in der Bildung von Chiffren rechtfertigt, ist sowieso nicht mehr zu halten. Jedoch besteht bei der Verwendung der Umgangssprache das Problem, daß diese nicht in der Lage ist, alle Grauwerte seelischen Empfindens darzustellen. Kann sie den Konflikt zwischen Traum & Realität, kann sie die Interaktionen zwischen Menschen wiedergeben, hat sie genügend Kraft, um Willen umzusetzen, bzw. erst einmal darzustellen. Kann sie brechen und neu fügen?

Die andere Möglichkeit ist, eine eigene poetische Sprache zu schaffen, die der Alltagssprache, der Sprache der Medien und der Ideologen entgegentritt und vielleicht in einer Linie mit der Sprache derer steht, die zuerst in das moderne Leben (Stadt und Technik) gedrängt wurden und mit ihrer Sprache antworteten: Symbolisten, Expressionisten, Futuristen, Dadaisten u.a. Um dieser Sprache keinen esoterischen Charakter zu geben, ist es notwendig, daß sich ihre Mittel erschließen lassen, denn drängen uns Inhalte zu schreiben, müssen wir uns auch um eine Verständlichkeit bemühen. Vielleicht kann es gelingen, die Kraft und Differenziertheit dieser Sprache zu nutzen, um auch Vorgänge außerhalb des Seelenlebens, die 'Verhältnisse', zu zeigen.

Rhythmus

Für mich ist Rhythmus in jeglicher bewußten Organisation von Material gegeben, ob dies die Beziehung der Wörter in einem Vers, die Ordnung von Versen im Aufbau einer Strophe oder die Strophen oder Sinnabschnitte im Text betreffen. Im Gegensatz zu dem Metrum, das nur die äußere Unterteilung der Verse ist, gibt der Rhythmus die Lebendigkeit eines Gedichts und verbindet Form und Inhalt durch seine Sinnakzentuierungen. Neben der Lautmalerei eines Wortes bringt die Raum/Flächenorganisation vieler Worte eine melodische Bewegung im Text, bzw. eine Gesanglichkeit hervor, die lange als Qualitätsmaßstab für gute Lyrik galt. Diese steht jedoch in Gegensatz zu der "Musikalität" unseres Alltages heute. Wenn wir zum Beispiel traditionelle Alternierungsschemen kopieren, täuschen wir ein Empfinden vor, das erst im Nachhinein beim Lesen alter Gedicht geweckt wurde. Auf diese Weise schreiben wir sicherlich kein Stück unserer Geschichte, denn wir schreiben nichts aus uns heraus. Was aber können wir überhaupt anderes leisten?

Die Rhythmen unserer Zeit sind die des Tagesablaufes, der Maschinen, mit denen wir arbeiten, der Steuerungssysteme, die unser Zusammenleben ermöglichen, der medialen Institutionen, die wir benutzen und nicht zuletzt unserer Unterhaltungsmusik (bass snare bassbass snare). Diese darzustellen oder uns gegen sie zu wenden, sollte eine neue Funktion und Bedeutung des Rhyhmus in der Lyrik sein.

Thema

Themen? Da gibt es genug: Mensch & Mensch, Mensch & Augenblick, Wandel & Wege, Glaube, Ursprung, Liebe, Träume/Ideale, Stadt, Gesellschaft, Gefühl, das Schreiben, etc. Alles ist möglich, wenig nötig. Wir sollten uns auf das Notwendige beschränken. Freiräume zu öffnen und diese begehbar zu machen. Zeigen, daß es jeden Tag gilt, Möglichkeiten auszuschöpfen, um das eigene und das Glück anderer, zu ermöglichen, halte ich für notwendig. Dabei stehen uns alle bisherigen Spielarten lyrischer Themenvariation zur Verfügung. Wir laufen sicherlich nicht Gefahr, einem Eklektizismus zu verfallen, wenn wir diese Pluralität nutzen und mit unseren Mitteln formen.

Wie, was, warum

Wichtig erscheint es mir, Empfinden und Denken in einem lyrischen Text Gestalt werden zu lassen, dies ist notwendig, um über die rein therapeutische Funktion des Schreibens hinauszugelangen. Gerade die Innerlichkeit der eigenen Erfahrung birgt die Gefahr, Tagebuchnotiz und Gedicht zu verwechseln. Es reicht nicht, Eindrücke unter- statt nebeneinander zu schreiben. Nur durch die Gestaltung einer Empfindung wird aus dem persönlichen Eindruck ein Dokument des "Übens im Gebrauch der Freiheit".

Heutige Lyrik muß einen Gebrauchswert besitzen, da wir sie sonst nicht brauchen und Dinge, die wir nicht brauchen, haben wir weiß Gott genug. Ich möchte mich nicht gegen die Schönheit der absoluten Poesie stellen, doch ist es nicht mehr an der Zeit, sich mittels dieser in sein Inneres zurückzuziehen. Heute ist ein Heraustreten erforderlich, um eine (soziale) Wirkung zu erzielen. Ob Lyrik dies überhaupt erreichen kann, ist eine andere Frage. Lyrik muß "ansteckungfähig" sein, denn der Leser will gewonnen werden. Wollen wir mitteilen, dürfen wir nicht nur darstellen. Unsere Versuche, die in diese Richtung zielten, waren bisher nichts anderes als Selbstverteidigung, ein Schlagabtausch mit den 'Verhältnissen', deren Bestandteil wir sind. Positive Werte aufzustellen, eigentlich: entgegenzustellen, und diese zu vermitteln, wird das Schwerste in der nächsten Zeit sein.